2 · Ane no Kokoro kara (Tuchen & Deschenke!)


»Ly?! ... Lyyy?! ... Ly-hyyy?! ...«

Doch Lyîrah achtete gar nicht auf das weit entfernte Rufen ihrer Schwester; hatte schon vergessen, dass sie eigentlich Verstecken spielten.

Hier im dichten Beerenhain, am Ende des kleinen Waldstücks im großen Wintergarten des Palastes, konnte man gut aus der ringsum geschlossenen Glaskuppel schauen, ohne auf die innere Festungsmauer klettern zu müssen – was sich ziemlich schwierig gestaltete, wenn man noch so klein war; die wackeligen Beinchen einen gerade erst anfingen, die große weite Welt aus der dreikäsehohen Perspektive erkunden zu lassen.
Die kleine, beerensaftverschmierte Hand an der kühlen Scheibe, starrte sie mit großen Augen hinaus in das Schneegestöber; hinunter zu den tanzenden Wirbelstürmen auf der Eisfläche des großen Sees. Am dicken Glas schlug sich in verträumter Gleichmäßigkeit ihr Atem nieder, den sie mit dem viel zu langen Ärmel ihres schneeweißen Festtagskleidchens jedes Mal wieder davonwischte.

Ein vorsichtiges Zupfen an ihrem anderen Ärmel holte sie aus dem umherwirbelnden Gedankengestöber. Ihr Blick sank auf den warmen Waldboden zu ihren nackten Füßchen, die nun der weißgraue, buschige Schwanz des kleinen Tierchens bedeckte, das sich still und leise neben ihr niedergelassen hatte.
Schon vor einigen Tagen waren die Zwillinge ihm begegnet, konnten aber bisher auf ihren Streifzügen noch nicht herausfinden, wie es das kleine Wesen trotz der Sicherheitsvorkehrungen und Drohnen hierherein geschafft haben könnte. 
Lyîrah musste grinsen, als ihr die kleine Zunge den klebrigen Saft von der Handfläche kitzelte. Sie ging in die Hocke und holte noch ein paar zermatschte Reservebeeren aus der Tasche. Doch bevor sich das hungrige Mäulchen darüber hermachte, schob es mit der langen Schnauze dem kleinen Mädchen die große Seidenkapuze aus dem Gesicht. Auf gleicher Nasenhöhe schauten sich beide tief in die Augen. Das kleine Tier schien zu Lächeln; ließ die spitzen Eckzähnchen aufblitzen.
»Stimmt nich. Nich hübsch«, flüsterte Lyirah und zog sich die Kapuze wieder tief ins Gesicht. Ein grummeliges Bellen widersprach ihr noch einmal, bevor die Beeren von der flachen Hand geschleckt wurden.
Als diese wieder sauber war, diente der Saum des Kleidchens noch schnell zum Trockenwischen, dann vergruben sich die Finger des Mädchens kraulend im weißgrauen Nackenfell der kleinen Polarfüchsin, die sich zum Dank eng an ihre Beine schmiegte.
»Flauschi Calla«, flüsterte Lyîrah und schloss ihre schmerzenden Augen, bis – »Buh!« – ihr von hinten, durch das raschelnde Gebüsch, ein Arm um den Hals geschlungen wurde.

Lyîrahs Herz raste vor Schreck, als sie nun nach hinten gezogen und an den Schultern auf den Boden gedrückt wurde. Die Füchsin war weniger beeindruckt. Sie hatte das tollpatschige Anschleichen längst bemerkt und begrüßte nun die lauthals lachende Erschreckerin mit einem feuchten Nasenstubser.

»Iiih, lass das!«, grinste Lúcîvà, bevor sie ihrer am Boden verstummten Schwester kopfüber einen feuchten Schmatzer nach dem anderen im Gesicht verteilte. Lyîrah zog sich zum Schutz die Kapuze noch tiefer, bis über die Nase. Luci feixte nur weiter: »Hab dich, Ly. Hab dich, Ly.« und begann, ihre wehrlose Schwester wild auszukitzeln, um ihr auch ein Lachen zu entlocken.

Lyîrah wollte nicht lachen. Auch die nutzlosen Befreiungsversuche gab sie schnell auf. Ihre Schwester kniete mittlerweile auf ihren beiden Armen. Eine gemeine, aber effiziente Taktik, die sie bereits zu Genüge über sich ergehen lassen musste.

»Hab dich, Ly. Hab dich ..., Ly. Hab ... Hab ...«, keuchte Luci immer schwerer. »Ly ...! Hab ...!« Das Kitzeln hörte abrupt auf.

Lyîrah spürte ein fürchterliches Stechen in ihrem Herzen und riss sich mit unerwarteter Kraft los. Ihre Schwester fiel japsend auf den Rücken. Calla schnüffelte unruhig an dem verkrampfenden kleinen Körper herum. Aufgeregt wühlte Ly in Lucis Taschen, bis sie die kleine Kristallphiole fand. Auf allen Vieren krabbelte sie über ihre Schwester, brachte mit einem kräftigen Druck die Phiole in ihrer Faust zu einem rosa Leuchten und stach sie mit der feinen Spitze in Lucis Brust.
Lyîrahs Herzschlag war nun so unregelmäßig wie der ihrer zappelnden Schwester. Das Rosa blieb aber noch das böse Rosa. Sie schluchzte. »Bitte, Ane no Kokoro! Bitte, Schwesterherz! ... Kokoro kara! Von ganzem Herzen!« Schützend warf sie sich Brust an Brust auf die immer noch krampfende Luci und flüsterte ihr ins Ohr: »Klopfe klopfe weg den Schmerz, klopfe kleines Kämpferherz!«

Als sie das weiße Licht zwischen ihnen spürte, holte Lúcîvà einmal tief Luft und drückte Lyîrah von sich herunter. Schnell wischten sie sich gegenseitig die heißen Tränen aus den Augen und nahmen sich fest in den Arm, bis ihre Herzen wieder beruhigt im Einklang schlugen.

»Nich Mama sagen, ja?«, wimmerte Luci und nickte aufgeregt mit dem Kopf. Ly hielt ihr aber bereits fragend das leere Fläschchen vor die Nase. Sie schnappte es sich und warf es in einem kläglich schwachen Bogen Richtung Glaskuppel – das klirrende Geräusch blieb jedoch aus.
Beide Mädchen schauten erschrocken auf. Erst zur leuchtenden Speerspitze, die sie blendete – dann zur Hand, die die Phiole zwischen zwei spitzen Fingern hielt – dann zu den, zur Landung weit nach oben gestreckten, weißen Schuppenflügeln des Angelus, der sie mit strenger Miene von oben herab musterte.

»Hier steckt ihr Plagegeister also. Ihr kostet mich noch den letzten Nerv! Erst verschwinden, wenn ich mal eine Sekunde nicht hinschaue, dann auch noch ein Anfall. Wenn das euer Vater erfährt, bekommt ihr Zwei mächtigen ...« – Lucis smaragdgrüne Augen flehten ihn riesengroß von unten an. – »Vergiss es, Süße! Der Blick funktioniert bei mir nicht.« Doch das anfänglich noch überhebliche, schiefe Grinsen fiel dem Anführer der Leibgarde gleich darauf wieder aus dem Gesicht, als Luci mit tief gesenkten Augenbrauen auf ihn zu stapfte.

»Du hast nich aufgepasst! Blöd!« So fest sie konnte, trat sie ihm mit dem nackten Fuß gegen seinen goldenen Beinpanzer.

»Du ... Nicht frech werden! Du wirst mich gewiss nicht ...!«

»Doch!« Stur trat sie ihm auch noch gegen das andere Bein. »Ich verpetz dich!«

»Ich fasse es nicht«, grummelte er. »Jetzt lasse ich mich schon von so einem kleinen Naseweis ...«

Beide Mädchen rannten mit einem Male mit ausgestreckten Armen an ihm vorbei. »Mama!«, erklang in aufgeregtem Duett. Sofort stand der geflügelte Krieger stramm und drehte sich um.

»Hier sind meine Mäuse also. Ärgert ihr Onkel Aquila schon wieder?« Beide Mädchen umklammerten voller Freude ihre beiden Beine und Aletheia streichelte ihnen die Köpfchen. »Sei gegrüßt, Aquila. Was wolltest du gerade sagen? Was lässt du dich von den kleinen Engeln?«

»Oh, ich ...« Ein grüner Funkelblick und eine rausgestreckte Zunge ließen ihn die Phiole geschickt und unbemerkt in seiner Tasche verschwinden. »Ich wollte sagen, dass ich mich nächstes Mal gewiss nicht mehr so leicht beim Versteckspielen austricksen lasse.«

»Das ist lieb, dass du mit ihnen spielst. Ich glaube, sie mögen dich sehr. Tán lässt nach dir schicken. Geschäftliches, nehme ich an.« Aletheia verdrehte leicht entnervt die Augen. »Ich übernehme die Süßen wieder. Der Kuchen ist nämlich gleich fertig. Und ich glaube, dass noch ein paar kleine Geschenke warten.« Die beiden Mädchen wollten schon flüchten, doch Mama hielt beide noch einmal am Kragen fest. »Habt ihr nicht was vergessen?«

Brav stellten sich die Mädchen nebeneinander vor Aquila auf, legten jeweils die flache Handkante aufrecht an ihre Nasenwurzel und verbeugten sich anständig. »Lux in perpetuum.«

»Lux ubique«, verbeugte sich der überlistete Sicherheitschef. »Ich freue mich schon auf das nächste Mal. Stets zu diensten, meine Damen.« Im Vorübergehen wuschelte er Luci noch einmal ganz besonders intensiv die dunkelbraunen Haare durcheinander, bis sich diese unter seiner Pranke davonduckte.
Nachdem er sich von der Herrin des Hauses angemessen verabschiedet hatte, breitete er seine kräftigen Schwingen aus und nahm den schnellsten Weg, den der Aviatoren, zum Palast zurück.

Neidisch starrte Luci den Flügelschlägen hinterher. Ly blickte seufzend nur auf ihre schmutzigen Füße und begann damit, ihrer Schwester etwas Erde und Gras vom nicht mehr ganz so weißen Kleid zu streichen.

»Na kommt, meine Engelchen. Einmal umziehen, dann feiern wir euren ersten Geburtstag nach Mamas Art.« Sie nahm beide Mädchen auf je einen Arm und dann machten sich die drei auf den Fußweg zurück zum Palast.

»Papa?«, fragte Luci neugierig.

»Der hat versprochen, auch mitzufeiern. Ganz bestimmt.«

»Au ja!«, strahlte Luci und schnupperte bereits nach Mamas Kuchen.

Ly sah wehleidig noch einmal zurück zum Beerenhain. Froh und in Sorge zugleich, als sie den grauweißen Schatten erspähte, der ihnen lautlos von Gebüsch zu Gebüsch nach Hause folgte.


* * *


»Lux ubique«, verabschiedete der Herr des Hauses die letzten drei Abgesandten des Tages. Noch bevor diese den Thronsaal durch die große Pforte verlassen hatten, sackte Tán müde wieder in den hohen, weißen Stuhl und rieb sich die Schläfe. Der schwere Handschuh ruhte bewegungslos auf der Armlehne.
Der angenehm kühle Lufthauch des landenden Aviators zu seinen Füßen blies die schwere Politik davon, doch wehte er auch die nächsten Sorgen mit sich herein.

»Heil Tán, Todesbringer, General, Geißel der ...«

»Bitte, lass die Förmlichkeit, Aquila, Angelus des Aviariums, Wächter des hohen Hauses, Freund der Familie und so weiter. Ich bin fertig mit dem ganzen offiziellen Zeremoniell für heute. Was gibt es zu berichten?«
Wortlos näherte sich der geflügelte Krieger dem Thron, seufzte tief und legte die leere kleine Phiole auf die freie Armlehne.
Tán spähte zwischen den Fingern an seiner Stirn hindurch und seufzte ebenfalls, bevor er das Objekt in die Innentasche seines langen Audienzmantels gleiten ließ. »Die wievielte?«

»Acht. Alles in allem.«

»Hat sie wieder versucht ...«

»Hat sie.«

»Und Lyîrah hat ihr wieder ...«

»Hat sie wieder.«

»Dann hab ich keine Wahl. Heute wird der Tag sein müssen. Wie passend als Geschenk zu Aletheias nostalgischer, kleiner Veranstaltung. Sie werden mich hassen.«

»Ihr tut es doch nur zu ihrem Besten. Sie werden es verstehen. Da bin ich mir sicher. Sie sind zäh. Vielleicht sind sie einzeln schwach, aber zusammen stark wie ein Phantomkrieger. Das versichere ich Euch.«

»Lass das nicht deine Sorge sein. Ich weiß, du wirst sie beschützen. Aber dafür habe ich dich nicht gerufen. Es gibt noch ein paar wichtige Dinge zu erledigen. Aber nicht hier. Folge mir.« Tán rappelte sich auf und verließ mit seinem obersten Leibwächter die große Halle.


* * *


Im Arbeitszimmer ließen sich beide auf zwei gemütliche Sessel sinken. Zwischen ihnen auf dem flachen Tisch stand eine kleine vernagelte Holzkiste, die Aquila ziemlich altertümlich vorkam. Auch die seltsamen Zeichen – Yggdrasil – Evac. Planet E – an der Seite dieses Dings konnte er nicht deuten.

Táns Fingerklingen zerlegten mit Leichtigkeit die dicken Bretter und zum Vorschein kam eine kleinere Kiste, mit grünem Samt bespannt. Diese öffnete Tán nun weit vorsichtiger und was darin zum Vorschein kam, erkannte Aquila.

»Das ist ein Reliquienschrein-Modul.« Er drehte die Samtkiste und betrachtete den silbernen Würfel darin eine Weile.
»Das ist ein Eindämmungsmodul für vitane Dra'ák-Technologie.«

»Richtig«, schmunzelte Tán. »Und dieses muss dem Scriptor Pérò zusammen mit einer Nachricht von mir überbracht werden. Selbstredend streng vertraulich.«

»Was befindet sich darin?«

Táns Finger strichen ehrfürchtig über die Lux-Runen des Würfels. »Zeit«, war seine gelächelte Antwort.

»Doch nicht etwa freier Staub?« Aquila erhob sich bereits halb vom Sessel, als im Tán beruhigend die Hand auf den Arm legte.

»Nein, mein Lieber. Nicht im wörtlichen Sinne. Aber für mich ist es Zeit. Zeit bis zur nächsten Ringwende. Oder: sechs Jahre, wie meine liebste Gattin so archaisch sagen würde. Ich liebe ja diese romantische Ader an ihr ... an sowas wie diesem altmodischen Konzept von Zeitrechnung festzuhalten, wo sie doch längst dieser albernen Sterblichkeit entsagt hat.« Tán schloss die Samttruhe bedächtig wieder und schob sie zu Aquila hinüber. »Wie dem auch sei«, fuhr er fort. »Jedenfalls bringt mich, oder besser unsere zwei Sorgenkinder, das zum nächsten Punkt. Den Zeremonien, die diese bis dahin durchlaufen werden ... durchlaufen müssten.«

»Als erstes dem Avionischen Konzil, nehme ich an.«

»So ist es. Du hast sicher längst das Problem der beiden erkannt.«

Aquila schluckte einmal schwer, bevor er antwortete. »Sicher, Herr. Aber seid gewiss, von mir erfährt niemand etwas. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Nicht jedes Kind ist mit Flügeln gesegnet.«

»Oh, da bin ich mir sicher, mein Guter. Aber darum geht es nicht. Fliegen könnten sie gewiss. Nur wäre es mir dann nicht möglich, die Untersuchungsprozedur für die beiden zu umgehen. Sie sind etwas ganz Besonderes. Die einfältigen Scriptoren würden es nicht verstehen. Deshalb ... unterdrücke ich seit ihrer Geburt ihre Schwingen. Und da kommst du ins Spiel. Du wurdest doch bis zur nächsten Wende ebenfalls in den Rat des Aviariums berufen, wie ich hörte.«

»Das stimmt. Aber ich besitze nicht die Macht, Eure Eingriffe zu verschleiern, geschweige denn ...«

»Nicht verschleiern, mein Guter. Ich rede davon, es gar nicht erst zu ihrer Prüfung kommen zu lassen. Alles was du für mich tun sollst, ist, die kleine Lyîrah bereits im Vorfeld für unrein zu befinden. Sagen wir ... auf Grund ihrer kognitiven Fähigkeiten. Weise sie auf Anordnung der Scientia zu.«

»Aber für die Wissenschaft ist sie noch viel zu jung ...«

»Genau deshalb. Bis zur nächsten Ringwende wird sie niemand antasten. Dafür werde ich dann sorgen.«

»Und Lúcîvà?«

»Sagen wir einfach, sie ist hochbegabt. Prädestiniert als eine Wächterin für das Scriptotium. Merke sie vor, zur Prüfung der nächsten Lichtwende-Zeremonie.«

Aquila räusperte sich verlegen und sah Tán mit weit emporsteigenden Augenbrauen an. »Nun ja ... Luci ... bei allem Respekt ... ihre intellektuelle ... Ihr wisst, was ich meine. Sie wird die Prüfung nie bestehen. Das wird den Priestern schon mit dem ersten Gespräch förmlich Kopfschmerzen bereiten.«

Tán schmunzelte. »Nun, das lässt sich nicht leugnen. Aber das ist auch der Plan. Deshalb auch dieses Geschenk für unseren speziellen Freund, Pérò-sama. Natürlich wird er die kleine Bestechung hier als Aufforderung begreifen, Luci zu bevorteilen. Und er wird sich die potentielle Gelegenheit nicht entgehen lassen, mich öffentlich zu demütigen, indem er meine Tochter vor aller Augen als unfähig bloßstellt. Sorge du nur dafür, dass er sie aus genau diesem Grund offiziell zulässt.«

»Ich verstehe. So ist auch sie bis zur nächsten Wende unantastbar. Für egal welches Konzil.«

»So ist es. Willst du mir diesen Gefallen tun?«

Aquila stützte sein Kinn auf einen Flügel und starrte angestrengt auf die grüne Truhe.

Tàn wurde zunehmend ungeduldig. »Wie ich hörte, hat dein Sohn ... Darius? ... bereits die Prüfung des Aviariums bestanden, nicht wahr? Wo wird er dienen?«

Das Kinn blieb auf den Flügel gestützt, der Körper regungslos. Nur die weißblauen Augen hoben sich vom Tisch in Táns siegessicheres Gesicht. »Als würdet ihr das nicht auch bereits wissen. Natürlich kommt er nach meinem Blut und wird in der Elite kämpfen.«

»Ja, das wird er. Und ich denke, dass er dort seiner Familie und seinem Vater alle Ehre machen wird. Seit mir die strategische Verwendung des Aviariums fast vollständig unterstellt wurde, gibt es vielseitige, sehr interessante Einsatzmöglichkeiten der Aviatoren. Von der todesmutigen Speerspitze der Bodentruppen, über den ruhigen Dienst in den Leibgarden, bis hin zur hoch ehrenvollen Kommandantur eines Seraphen. Wirklich sehr vielseitig. Das wisst ihr ja selbst.«

Die zuckenden Flügelspitzen verbargen sich verschränkt hinter der Sessellehne. »Ja, ich verstehe. Euer Verdienst ist unbestritten, ehrenwerter General.«

»Besten Dank. Also? Wenn es dir beliebt, noch länger darüber nachzusinnen, sei herzlich eingeladen, mir, meiner Frau und meinen Töchtern bei unserer kleinen Festivität noch Gesellschaft zu leisten.«

Aquila erhob sich aus dem Sessel und verbeugte sich mit der geschlossenen Faust vor dem Brustpanzer. »Verzeiht, aber ich habe noch Dienstliches zu erledigen, das keinen Aufschub duldet.« Ein letzter Blick in Táns zufriedenes Gesicht, das ihm zum Abschied leicht zunickte, dann schnappten sich seine Flügel mit Vorsicht die grüne Kiste. »Ich wünsche Euch ein freudenreiches Fest, General.« Dann machte er zackig auf dem Absatz kehrt und verließ eiligst Arbeitszimmer, Halle und Palast.

Táns Grinsen wurde bereits breiter, als er sich endlich dem unbequemen Repräsentantengewand entledigte – und strahlte nahezu schmerzhaft, als er sich schwungvoll in die gemütlichen Festtagskleider gehüllt hatte und eilig durch die Räume schritt. 
»Wann bin ich eigentlich das letzte Mal das Treppengeländer in den Garten runtergerutscht?« 
Ein Achselzucken – Anlauf.


* * *


»Papa-papa-papaaa!«, brüllte Luci los und sprang wie vom Blitz getroffen von der großen Picknickdecke auf. »Papp-papp-papp!«, rannte sie auf Tán zu, der im samtig schwarzen Morgenmantel über die große Wiese auf die vielen bunten Laternen zu schlenderte. »Pa-paaa-pa-paaa!«, hüpfte sie freudestrahlend im Slalom um die meisten der vielen Lichtkugeln herum – die sie nicht versehentlich in den Boden gestampft hatte – und wedelte wild mit der kleinen Kristalltafel über ihrem Kopf. »Papp...«, war das letzte dumpfe Wort von ihr zu vernehmen, bevor sie über die kleine Wurzel, dann über die eigenen Beine stolperte und ihr Gesicht in der kleinen Kleckerburg in der Sandgrube verschwand.

Tán konnte ein lautes Lachen nicht unterdrücken, winkte aber Aletheia, die sich gerade sorgenvoll erheben wollte, sitzen zu bleiben. Gleichzeitig mit der hinterhertapsenden Ly kam Papapapapapp bei Luci an, die sich noch leicht bedröppelt aber stumm aufsetzte und ihren Mund mit beiden Händen von ihrer knirschenden Zwischenmahlzeit befreite.
Mitleidig beugte sich Lyîrah zu ihr herunter, um ihr beim Aufstehen zu helfen, doch ihr Vater war schneller. An einem Arm zog er sie wieder auf die Füße und ging zu ihr in die Hocke.
»Hey, Prinzessin.« Ungeachtet ihrer dreckigen Schnute, und der bereits bebenden Unterlippe, gab er ihr einen langen Schmatzer auf die Wange. »Ich habe was von Kuchen gehört. Der schmeckt doch bestimmt besser, oder?«, zwinkerte er ihr zu.

Luci nickte kurz, fuhr sich mit dem Arm über Wangen und Lippen und drehte sich dann zähneknirschend zu der Wurzel um. »Blöd! Blödwuzzel! Blöde Dra'ák-Kacke-Wuzzel!« So schnell, wie sie die Kristalltafel fallen ließ und sich die nächste Laterne schnappte, konnte auch Tàn nicht reagieren. Die kleine Feuerkugel darin hoch über den Kopf erhoben, stampfte sie drei Schritte auf den Baum zu und ließ das Glas am dicken Stamm zersplittern. Sofort ging das Holz in Flammen auf und alarmierte ein paar kleine Sicherheitsdrohnen unter der hohen Kuppeldecke, die sofort den Löscheinsatz begannen. Jetzt fing Luci doch noch an, laut zu schreien und zu weinen und schlug mit der Hand missmutig nach den fliegenden Helfern – die da einfach ihr hübsch leuchtendes Werk zerstörten.

Lyîrah hielt die Luft an und schlug sich beide Hände vor den Mund. Ihre eigene Tafel hatte sie vor Schreck gleich neben Lucis fallen gelassen.

Papa Tán packte sich Luci mit einem Arm um ihre Hüfte und bugsierte sie schwungvoll auf seine Schulter. »Na, so eine Kriegerin. Kann kaum laufen, aber erschlägt schon ihren ersten Feind. Jetzt lass uns doch erstmal was essen. Ich hab Seraaaphen-Hunger!«

Triumphierend streckte Luci dem bösen Baum noch einmal die Zunge raus, während sie hoch über den Wurzeln thronend von Papas starker Schulter zurück zur kopfschüttelnden Mama getragen wurde.

Ly blieb ein paar Schritte zurück. Nachdem sie beide Kristalltäfelchen aufgesammelt hatte und fest im Arm hielt, winkte sie den wieder davonschwebenden Drohnen nach. Sie blieb noch kurz an der angesengten Rinde des Kirschbaums stehen und streichelte vorsichtig über dessen schwarze Oberfläche.
»Ly-hyyy«, hörte sie ihre Mama aus dem Licht rufen und wanderte gemächlich im Zickzack zur Decke zurück – aufmerksam darauf bedacht, keiner der bunten Lichtkugeln zu nahe zu kommen.

»Komm her, Kleine. Zeigt Papa mal, was ihr gebastelt habt.«

Während aus allen Richtungen des Wäldchens die Bediensteten allerlei Geschirr, Getränke und Speisen in der Mitte des Picknicks auftrugen, setzte sich Tán neben Aletheia und gab ihr einen langen Kuss auf die roten Lippen. »Ich liebe dich, mein Schatz.« – Luci auf Papas Schoß fing nach einem langen »Iiih« an zu feixen. – »Euch auch, ihr Staubflöckchen!« Luci bekam auch noch einen schmatzenden Iiih auf die Stirn. Ly, die sich mit beiden Kristallen gerade an Mamas Seite schmiegte, wurde von Táns freier Hand kurz liebevoll über die Wange gestreichelt.
»Zeigt mal her.« Lyîrah streckte Luci ihre Tafel entgegen, die Papa ihr abnahm und über deren Oberfläche strich. Sofort leuchtete sie auf und gab eine Vielzahl kleiner, pinker Hologramme wieder.

»Das da!«, pikste Luci stolz auf eines der Gebilde, das sich daraufhin etwas vergrößerte und anfing, sich zu drehen: Eine unförmige Kugel mit zwei smaragdenen Punkten in ihrer Mitte.

»Oh, das bist ja du!«, stellte Papa stolz fest. Den fehlenden Arm und die von der Künstlerin scheinbar für unwichtig befundenen Beine spielten für den Betrachter keine große Rolle – jedoch die riesigen, weißen Wolken, die das Selbstbildnis ausladend einrahmten. »Und du spielst da im vielen Schnee, stimmts?«

Luci klatschte sich mit der flachen Hand an die Stirn und gluckste belustigt vor sich hin. »Nein. Nich Schnee. Luci fliegt!« Ly lächelte ihrer Schwester zu und streckte ihrem Papa nun ihren Kristall entgegen. Luci war jedoch noch nicht fertig mit ihren Ausführungen. »Luci fliegt! Lucie fliegt! So!« Zur Demonstration flatterte das grinsende Mädchen jetzt wild mit dem Arm. Mama konnte gerade noch ausweichen – die Dienerin mit dem Tablett voll Obst nicht mehr. Scheppernd fiel es zwischen das Geschirr.

Sofort beugte sich die junge Frau herab, um schnellstens wieder die Ordnung herzustellen. »Verzeiht mir. Ich ...«

Doch Lucis wilde Flugkünste geben ihr in schneller Folge mehrere Ohrfeigen, gekrönt von einem hämischen Lachen. »Luci fliegt. Du bist blöd! Lu fliegt. Du blöd!«

»Na!« Tán hielt ihr den Arm fest und deutete der Bediensteten mit einer stummen Kopfbewegung ihren Feierabend.

»Nicht so schlimm. Verzeih«, entschuldigte sich Aletheia noch bei der Frau, bevor sie ihrer Tochter einen bösen Blick zuwarf, den diese angestachelt sofort zu kontern versuchte.

Als wieder Stille eingekehrt war, während Tán selbst das Obst-Malheur beseitigte, hielt Ly erneut zögerlich ihr kleines Hologramm in die Runde. Doch bevor jemand diese Geste wahrnahm, war es wieder Luci, die wild aufschrie. »Der Tuchen! Der Tuchen!«

Ly ließ die Tafel wieder sinken und spähte jetzt auch in die Richtung, in die die restliche Familie sich drehte. Zwei Butler stemmten zu zweit die silberne Platte mit der großen Torte herbei.
Der letzte freie Platz der Decke wurde von einem liebevoll überdimensionierten Monster in Herzform mit rosa Zuckerguss ausgefüllt. Lucis Hand patschte schon danach. Lys Daumen streichelten noch immer den kleinen Kristall in ihren Händen.

Aletheia zündete in jeder Herzhälfte eine weiße Kerze an. »So, meine beiden Engelchen. Bevor wir essen, so ist das alte Tradition bei Mama, müsst ihr die Kerzen auspusten.« – Luci machte augenblicklich dicke Hamsterbacken. – »Aber dabei könnt ihr euch etwas wünschen! Ihr müsst nur ganz fest daran denken und die Augen schließen. Dann auspusten. Dann geht euer Wunsch irgendwann in Erfüllung. Bereit?« Beide Mädchen nicktenden gelb tanzenden Flammen fasziniert zu. »Dann los.«

Während Luci mit leuchtenden Augen sofort noch einmal auf ihr Flügelselbstporträt starrte, machte Lyîrah ein sehr nachdenkliches Gesicht. »Ein einziger Wunsch ... Muss man gut überlegen.« Unsicher nestelte sie in ihrem Schoß mit ihrem noch ungezeigten Hologramm herum. Als Luci übertrieben laut Luft holte, musste Ly wieder an den heutigen Vorfall denken. Sie lächelte unter der Kapuze. »Ein guter Wunsch, ja!«
Luci pustete bereits was das Zeug hielt, als Lyîrah Luft holte und den Kopf zur Kerze hob, doch sie blickte nur noch auf das sich kräuselnde Rauchfädchen am Ende des für sie bestimmten Dochtes.
Hinter der zweiten erloschenen Kerze: der erschrockene Blick ihrer Schwester, die gerade wieder die Augen geöffnet hatte.

Hilfesuchend blickte Lúcîvà zu Mama und Papa nach oben, die aber mit geschlossenen Augen, in einen langen Kuss vertieft, wohl an ihre ganz eigenen Wünsche dachten und nichts mitbekommen hatten. Luci ergriff also die Initiative und beugte sich mit ausgestreckter Hand der nächstbesten Feuerkugellaterne entgegen. Aber ihre Schwester schüttelte mahnend Kopf und versuchte, beschwichtigend zu lächeln. Luci blieb für eine Sekunde nachdenklich in dieser Position, dann erwiderte sie das Lächeln und streckte stattdessen ihre Hand nach der anderen Tafel aus.

Lyîrahs innerliche Kränkung verflog mit dieser schwesterlichen Geste und vorsichtig hob sie den Kristall – nur um ihn sich gleich von Papa wieder abnehmen zu lassen.

»So, nun aber weg mit dem Spielzeug beim Essen. Jetzt werden so viel Kuchen und Leckereien gemampft, bis wir so kuuugelrund wie ein Ikarus sind!« Der Kristall wurde achtlos über die Schulter geworfen und Luci das kleine Bäuchlein durchgekitzelt. »Und danach gibt es Geschenke. Haut rein!«


* * *


Nachdem das große Schlemmen beendet und alles bis auf den übrigen Kuchen und vier Teller bereits wieder abgeräumt war, wurden von den Dienern schon eifrig bunte Schachteln herbeigestapelt.
Den lauten Rülpser, für den dessen Urheber von seiner Frau einen Sei-kein-schlechtes-Vorbild-Blick erntete, musste natürlich von Klein-Luci, ein paar Oktaven höher, sofort kopiert werden. Mama schüttelte den Kopf mit der Hand an ihrer Stirn – Papa und Luci kicherten laut. Und Lyîrah ...

»Tán? Wo ist Ly schon wieder hin?«, fragte Aletheia und ließ den Blick vom halbvollen Teller ihrer unbemerkt abhandengekommenen Tochter durch die nähere Umgebung schweifen.

»Ach, dieses Kind. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sie für einen Geist halten. Frag Aquila. Er ist mit ihr mehr als Fährtenleser beschäftigt, denn als Lehrer oder Aufpasser.« Tán wuselte Luci noch einmal durch die Haare, bevor er sie vom Schoß auf die Decke setzte und sich erhob. »Packt ihr doch schon mal ein paar Geschenke aus, ich werde sie schnell suchen.« Dann verschwand er zwischen den Bäumen um Halbdunkel des Abends.

»Wenn Ly nich will, krieg ich dann ihre Deschenke?«, fragte Luci, die sich bereits das größte Päckchen vor die Füße zerrte.

»Du bist ganz schön frech, Schatz.« Aletheia zog ihr die Schachtel weg. »Geh lieber deinem Papa helfen!«

»Aber ...«

»Du findest deine Schwester bestimmt schneller als er. Wetten?«

Weg war Luci – Papa hinterher. »Lyyy?! Mama sagt, wenn du nich kommst, krieg ich deine Deschenkeee!«

Mama schüttelte nur amüsiert den Kopf und gönnte sich einen Schluck Met.


* * *


Die unscheinbare Spur aus rosa Kuchenkrümeln im Rasen, der Tán mittlerweile folgte, endete gar nicht weit entfernt, noch in Hörweite von Lucis Rufen, am Rande eines dichten Gebüschs. Dort kniete Ly auf dem Boden und streckte ihr süßes Mitbringsel dem weißgrauen Geschöpf entgegen.
»Fein«, flüsterte sie. »Fein aufessen.« Glücklich sah sie ihrer kleinen Freundin dabei zu, wie diese ihr Happs für Happs das Kuchenstück aus der Hand naschte.

Ein leises Rascheln hinter dem Mädchen ließ die Füchsin blitzartig den Kopf heben. Ein erschrocken hohes Bellen und der Versuch, mit einem Satz im Unterholz zu verschwinden, wurden durch die über Lys Kopf hervorschnellende Hand zunichtegemacht. Der feste Griff der schwarzen Krallen um ihren Hals erstickte jeden weiteren Laut.
Am ausgestreckten Arm zappelte und winselte das Tier und seine blassroten Augen starrten hilflos in den weißblau entflammten Blick von Tán.

»Hab ich's doch gewusst!«

Lyîrah erholte sich vom ersten Schreck und sprang auf. »Nein! Lass los! Papa, lass Calla los!« Eine Hand an Táns Gürtel stand Ly auf Zehenspitzen und angelte mit der anderen nach einem der zappelnden Hinterläufe.

»Schluss, Lyîrah! Ich zeige dir, wie man mit Eindringlingen verfährt. Dreckige Kitsune!« Sein Griff wurde fester, das Winseln leiser.

Endlich schaffte es Ly, eine der nun herabhängenden Pfoten zu schnappen und spürte sofort die Kraftlosigkeit des kleinen Wesens. »Nein!«

Ein hellweißes Flackern, ein dumpfer Schlag und Tán wurde mit dem Rücken gegen den nächsten Baum geschleudert.
Als er sich wieder orientieren konnte, stand seine Tochter gute zehn Schritte weit vor ihm und starrte überrascht auf die keuchende, fiepende Füchsin in ihrem Arm. Hinter Ly erstrahlte das Gebüsch in flackerndem, hellem Weiß. Die Pflanzen selbst schienen im Licht immer wieder zu verschwinden und im Schatten wieder zu erscheinen.
Tán näherte sich vorsichtig. »Lyîrah? Du lässt das Ding sofort runter. Hör auf Papa! Kitsune sind gefährlich!« Eine Hand beschwichtigend nach vorn gestreckt, die Klaue jedoch Kampfbereit hinter dem Rücken, war er fast in Reichweite, als Ly den Kopf so ruckartig hob, dass ihr die weiße Kapuze vom Kopf rutschte.

»Calla sagt, sie passt auf. Calla sagt, du musst keine Angst haben. Calla sagt: ›Vita est umbra viatoris‹ «

Schnell hob Tán eine Hand, um die bereits herbeigeeilten Wächter-Ikari-Drohnen auf Abstand zu befehlen. Fasziniert verlor er sich in den Augen seiner Tochter. Ein schattenschwarzes Auge, glänzend wie Vulkanglas, das andere erstrahlte lichtweiß, marmoriert von blassgrauen Äderchen.
»Ist gut, Schatz. Hörst du? Alles ist gut. Wenn ich dir verspreche, dass ich ihr nichts tue, darf ich dann kurz nachsehen, ob es dir gut geht?« Ohne die Antwort abzuwarten, setzte er noch einen Fuß auf sie zu.

Lyîrah wich zwei schnelle Schritte zurück und das Licht hinter ihr begann noch etwas schneller zu pulsieren.

»Schatz, ich ... aua!«

»Deh weg! Nich Ly ärgern! Nich Calla wehtun!«, motzte Luci, ließ den Stock fallen, der Papas Kniekehle getroffen hatte und stellte sich mit kampfbereit erhobenem Fäustchen zwischen Schwesterherz und ihren Vater. Im Hintergrund knurrte Calla einmal leise. Luci verdrehte die Augen. »Erst wenn Papa die wegmacht!« Sie hob einen kleinen Stein auf und warf ihn nach dem nächstbesten Ikarus, dessen acht Augenblenden das goldene Licht dahinter verächtlich kurz auf das Wurfgeschoss fokussierten, das ihn um ein paar knappe Meter verfehlte.

»Ist gut, Prinzessin. Papa macht das.« Er setzte sich das bestmögliche Deeskalations-Lächeln auf und hob erneut die Hand. »Ikari: wieder in Patrouillen-Modus! Fehlalarm. Keine Gefahr. Subjekt Kitsune mit Name Calla von Liquidation ausschließen. Hinzufügen zu Freundesliste. – Ach ja, und Audio- und Videoprotokoll des heutigen Abends löschen. Ausführen!«
Das Dutzend Drohnen, das den Ort des Geschehens lautlos eingekreist hatte, senkte die goldenen Klingen und zog die Fangarme zurück in den weißen Kugelkörper. Die Augenblenden schlossen sich und die goldenen Lichter ihres Wächterblicks verengten sich wieder zu winzigen Punkten, die sich schließlich in alle Richtungen der Kuppel entfernten.

Luci nahm die Faust runter und Lyirah schloss beruhigt die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war das Licht in ihrem Rücken verschwunden. Ein Auge matt schwarz, das andere wieder dunkel weiß. Calla sprang ihr erholt vom Arm und schüttelte sich kräftig. Tán konnte Ly gerade noch auffangen, als sie wimmernd in sich zusammensackte.

»Pscht. Alles ist gut. Papa ist da.« Calla beobachtete aufmerksam, wie er Ly fest an sich drückte und ihr über Kopf und Rücken streichelte. Lucis Blick fiel sofort auf das zerrissene Kleid; auf die beiden Schlitze, die sich an ihren Schulterblättern durch den Seidenstoff geschnitten hatten und in die sich Táns Hand nun vortastete. »Heute ist ein besonderer Tag, meine Engel. Das habe ich geahnt. Ab heute werden wir euch zwei regelmäßig einer besonderen Zeremonie unterziehen.« Liebevoll streichelte er die zwei aufgerissenen Stellen an Lyîrahs Rücken; die Ansätze der zwei kleinen weißen Flügelspitzen.

»Das is unfair! Luci will auch! Luci fliegen ...« Mit vorgeschobener Unterlippe pikste sie mit ihrem Zeigefinger immer wieder auf den weißen Flügelschuppen herum.

»Ach, meine Süßen, das mit dem Fliegen wird wohl noch eine Weile warten müssen.« Tán erhob sich und stellte Ly wieder auf ihre wackeligen Beine. Sofort nahm Luci sie an die Hand. Táns Blick richtete sich auf die kleine weißgraue Kitsune, die ihn in respektvollem Abstand argwöhnisch beobachtete. »Und ihr sagt, dass sie mit euch spricht, ja?«

Beide Mädchen nickten. Lys schwache Stimme fügte noch hinzu: »Calla hilft, dass Luci macht, dass Calla spricht.«

»Das ist aber schön. Ihr seid beide sehr begabt. Wisst ihr was? Weil heute euer Geburtstag ist, nach Mamas Zeitrechnung, gewähre ich euch euren Wunsch. Was haltet ihr davon, wenn euer kleines Tierchen ab heute bei uns zu Hause wohnt? Da bekommt sie auch richtiges Kitsune-Essen und keine kläglichen Reste.«

»Jaaa!« Luci vollführte einen kleinen Freudentanz, bei dem sie ihre Schwester fast wieder von den Beinen riss.

»Lasst uns zurückgehen. Mama macht sich sonst noch Sorgen. Oder packt eure Geschenke noch alleine aus.«

»Neeein! Ly komm. Deschenke! Schnell!«

Doch Ly ließ sich auf den Hosenboden sinken und rieb sich die Augen.

»Lauf schon vor, Schatz. Wir kommen nach.«

Luci ließ sich nicht zweimal bitten und rannte schnurgerade zurück zur Lichtung. 

Tán schickte über sein Armband noch einen Diener nach einem nun notwendigen Extrageschenk, nahm die gähnende Ly auf den Arm und folgte dem Wirbelwind etwas gemächlicher. Die kleine Polarfüchsin schlich ihnen lautlos hinterher.


* * *


Als Tán sich wieder in den orangen Laternenschein setzte und Aletheia behutsam die schlafende Ly übergab, machte sich Luci schon freudig glucksend daran, allerlei Geschenkverpackungen einhändig zu zerstören. Nach etlichen Ooohs und Aaahs über Spielzeug, Kleider und diverse Süßigkeiten schob Mama ihr die besonders große Kiste wieder vor die Füße.
Papa musste etwas helfen, bis die dritte Sicherheits-Umverpackung entfernt war, dann öffnete sie mit Glitzeräuglein die große, längliche Silberkiste.
Fünf Minuten später strahlte Lúcîvà über beide Ohren als sie gar nicht mehr aufhören konnte, in die Hände zu klatschen. Sie liebte dieses Geräusch unheimlich. Mit beiden Armen fiel sie ihrem Papa um den Hals.

Das »Ich hab dich lieb, Papa« ließ beide Elternherzen schließlich dahinschmelzen. »Und was bekommt Ly? Darf ich für sie auspacken?«

Wie aufs Stichwort öffnete die kleine Träumerin in Mamas Schoß blinzelnd ihre Augen wieder.

»Das hat auch der Papa gebaut. Wie Lucis Geschenk.« Mama angelte nach dem kleinsten Präsent. »Darf ich das für dich aufmachen?« Ly nickte müde. Aletheia entfernte die Sicherheitssigel und legte ein kleines Fläschchen frei. »Machst du einmal die Augen ganz weit auf? Schaffst du das noch mal?« Lyîrah tat Mama den Gefallen gerne. »Das brennt jetzt vielleicht ein bisschen, aber das ist nicht schlimm.« Ly nickte, presste aber die Lippen fest aufeinander.
»So ... Siehst du? War nicht schlimm. Jetzt kannst du bald mit anderen Kindern spielen. Und Luci jetzt auch.«

Ly rieb sich mit beiden Fäustchen für einen Moment die immer noch schmerzenden Augen, bis auch diese Kraftanstrengung sie wieder eindösen ließ.

Auch Luci, die es sich energisch wieder auf Papas Schoß bequem gemacht hatte und mit zum Himmel gestreckten Armen immer wieder ihre Finger betrachtete, fielen schon langsam die Augen zu, als ein einzelner Diener mit dem bestellten Extra aus Táns Arbeitszimmer eintraf.

»Tán, Schatz? Nicht mehr heute. Schau doch.«

Lys Atmung war bereits wieder tief und gleichmäßig und Luci, die in diesem Moment das letzte Mal die schweren Augenlider nach oben stemmen konnte, fielen vor Müdigkeit gerade die eigenen Arme ins Gesicht. Dann schnarchte sie vollgefuttert und zufrieden.

Tán nickte einsichtig und deutete dem Diener, das Objekt einfach abzustellen. »Das kann ich ihnen auch ... morgen erklären«, gähnte er. »Eigentlich ist das Geschenk ja auch weniger für die beiden.«

Calla, die sich ebenfalls mit müden Augen, aber hellwachen Ohren, am Rand der Decke neben Aletheia zusammengerollt hatte, hob den Kopf, als hätte sie seine Gedanken gehört – und blickte in ein entschlossenes, eisblaues Augenpaar, das sie listig ins Visier nahm – durch die dünnen, goldenen Stäbe des großen Aurelitan-Käfigs.

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